Apathie im Schraubstock
Sabrina
Als Nick Drnasos SABRINA vor einem Jahr als erste Graphic Novel überhaupt für den renommierten Man Booker-Preis nominiert wurde, sorgte das für ein ziemliches Presseecho – was einerseits offenbart, dass der Kulturbetrieb den Comic zwar nicht mehr wie früher konsequent ignoriert, andererseits aber auch, dass es immer noch als bemerkenswerte Ausnahme wahrgenommen wird, wenn einmal einer echte literarische Qualitäten zeigt. Nun erscheint das Buch auf deutsch – und zeigt, dass der Roman, den eine Gesellschaft gerade braucht, auch mal ein Comic sein kann.
Alles beginnt mit einem Mysterium: Eine Frau – die titelgebende Sabrina – verschwindet auf dem Nachhauseweg spurlos. In der Folge gerät das Leben ihres Freundes Teddy aus den Fugen – durch die Angst um Sabrina, die Ungewissheit darüber, was mit ihr geschehen ist, aber auch durch die Nachstellungen der Presse, zunehmend ausufernde Spekulationen im Internet und zumindest unterschwellig stets mitschwingende Verdächtigungen gegen ihn selbst. Zermürbt verlässt er die Stadt und sucht Unterschlupf bei seinem Freund Calvin.
Andere Autoren hätten aus dieser Ausgangssituation vermutlich einen routinierten Krimi konstruiert. Nick Drnaso geht es um etwas Anderes. Er stellt die Frage, was heute mit Menschen geschieht, die eine private Tragödie erleben – und neben dem persönlichen Schmerz zusätzlich damit klarkommen müssen, dass ihr Schicksal in den Massenmedien spekulativ ausgewalzt, in den „sozialen“ Medien zu Unterhaltungszwecken herumgereicht und von unterschiedlichsten Seiten für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert wird.
Teddy wird in diesem sich erbarmungslos zudrehenden Schraubstock zusammenbrechen. Außerstande, sein bisheriges Leben weiterzuführen, vegetiert er apathisch in Calvins Wohnung vor sich hin und verliert sich in den dunklen Ecken des Internets.
Aber nicht nur Teddy, sondern alle im Buch vorkommenden Figuren erscheinen wie gelähmt; außerstande, ihr Leben in irgendeiner Form positiv zu gestalten. Calvin etwa leidet seit seiner Scheidung unter der Trennung von Frau und Tochter, schafft es aber nicht, die emotionale und räumliche Distanz zu den beiden zu verringern. Zugleich fühlt er sich an seinem Arbeitsplatz beim Militär unter Druck, hin- und hergerissen zwischen dem Angebot, zu einer geheim operierenden Einheit befördert zu werden, und den damit einhergehenden moralischen Konsequenzen.
Diese inhaltliche Ebene der Entfremdung findet ihre Entsprechung in Drnasos kargen, in fahle Farben gefassten Zeichnungen. Die mit wenigen Strichen charakterisierten Figuren wirken plump und schwerfällig; halt- und orientierungslos bewegen sie sich durch akkurat mit dem Lineal konstruierte Szenerien. Ihre Gesichter zeigen kein Mienenspiel; Kommunikation findet nicht wirklich statt.
So zeichnet Drnaso auf eindrucksvolle Weise das Bild einer Gesellschaft, die jegliche Empathie verloren hat; die zerrissen wird zwischen einer alle Ebenen des Zusammenlebens durchdringenden Bereitschaft zur physischen und psychischen Gewalt auf der einen Seite und einer lähmenden Hoffnungslosigkeit auf der anderen. So wie er das tut, subtil und zugleich in einer gnadenlosen Konsequenz, sollte sich die Frage, ob das nun Literatur ist, erübrigen. Und wer diese Bezeichnung für einen Comic nicht verwenden möchte, dem könnte man noch eine andere vorschlagen: Meisterwerk.
Sabrina
Nick Drnaso / Blumenbar
Aus dem Amerikanischen von Daniel Beskos und Karen Köhler
Gebunden mit ausklappbarem Vorsatz, 208 Seiten, 26 €
Die deutsche Ausgabe erscheint am 13. September.
Im Original erschienen bei Drawn & Quarterly, Montreal
Ende September stellt Nick Drnaso das Buch in Deutschland vor; unter anderem beim Comicfestival Hamburg am 28. September. Weitere Informationen zu den Veranstaltungen im Rahmen seiner Lesereise finden sich hier.
Alle Abbildungen © Nick Drnaso / Drawn & Quarterly;
Titelbild © Aufbau Verlag / Blumenbar