Auf allen Etagen das höchste Niveau
Comics im Centre Pompidou
Comics im Centre Pompidou
Jetzt aber schnell: Nur noch bis kommenden Montag zeigt das Centre Pompidou die vermutlich spektakulärste Comic-Ausstellung, die die Welt bisher gesehen hat. Wer noch nicht dort war, hat genau zwei Möglichkeiten: entweder sofort den nächsten Zug nach Paris besteigen – oder sich ein Restleben lang grämen über die verpasste Gelegenheit!
Dass die neunte Kunst in unserem Nachbarland Frankreich einen anderen Stellenwert hat als hierzulande, ist nun wirklich nichts Neues. Die monumentale Comic-Ausstellung, die derzeit im Centre Pompidou zu sehen ist, sprengt aber auch für französische Verhältnisse alle Maßstäbe. „La BD à tous les Étages” – Comics auf allen Etagen also – versprechen die Banner, mit denen das Centre Pompidou weithin sichtbar zeigt, welchem Medium es derzeit seine heiligen Hallen widmet. Und das ist schon eine ziemliche Ansage, wenn man sich klarmacht, dass es hier nicht um ein beschauliches Stadtmuseum mit fünf Räumen geht, sondern eine Kathedrale der Kultur, die mitten in Paris die Ausmaße mehrerer Stadtblocks einnimmt. Als Besucher darf man sich also auf einen Marathon einrichten – und tatsächlich lohnt es sich, ausreichend Zeit für den Besuch einzuplanen. Geboten bekommt man nämlich nicht nur eine Ausstellung, sondern gleich mehrere.
Räumlich ganz oben im sechsten Stock, inhaltlich aber im Zentrum steht dabei die Ausstellung „Bande dessinée, 1964 – 2024“. Ein bisschen unbescheiden wirkt der Titel ja schon, verspricht er doch einen umfassenden Überblick über 60 Jahre Comicgeschichte. Allerdings: genau das bekommt man dann auch geboten. Und das nicht etwa mit zweitklassigen Nebenwerken oder Reproduktionen, sondern mit prächtigen Originalen der größten Künstlerinnen und Künstler, die das Medium hervorgebracht hat. Dass man den einen oder anderen Moebius zu sehen bekommt, durfte man angesichts der prominenten Verwendung des „Starwatcher“ auf dem Werbematerial schon erwarten. Die Fülle an Hergés und Franquins, Kirbys und Millers, Crumbs und Spiegelmans, Schuitens und Wares, die sich drumherum sortiert, hat dann in Qualität und Quantität aber schon etwas Ehrfurchtgebietendes.
Überraschend wirkt zunächst, dass die Ausstellung sich auf die letzten 60 Jahre beschränkt. Das Konzept der vier Kuratorinnen und Kuratoren erklärt sich aber gleich im ersten Raum: hier wird gezeigt, wie die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich in den 1960er Jahren Bahn brachen, auch dem Comic die damals vollkommen neuen Wege eröffneten, auf deren Verästelungen er sich bis heute bewegt. Plötzlich wurden im Comic sehr erwachsene Themen behandelt, von Politik und Gesellschaftskritik über Partnerschaft und Sexualität bis hin zu den Drogen, die damals für viele genauso zum Lifestyle gehörten wie Mode, Film und Musik. Neben den Inhalten prägten die bewusstseinserweiternden Erfahrungen wohl auch die künstlerischen Ausdrucksformen: herrschte im Comic vorher noch die am klassischen Vorbild geschulte Zeichenkunst vor, öffnete er sich nun psychedelischen Farborgien genauso wie der kratzigen Underground-Optik eines Robert Crumb oder S. Clay Wilson.
All das wird eindrucksvoll demonstriert mit Originalzeichnungen, historischen Heftchen und aufs wandfüllende Format vergrößerten Panels. Neben- und durcheinander präsentiert die Ausstellung hier Beispiele aus Europa, Nordamerika und Asien und zeigt so, dass damals weltweit einiges in Bewegung geriet. Dass die Ausstellung diesen vorurteilsfreien, weltoffenen Blick auch in den folgenden Räumen konsequent durchhält und Manga, europäische und US-Comics ganz selbstverständlich miteinander präsentiert, gehört zu ihren großen Stärken. En passant erkennt man so, dass die Gemeinsamkeiten der verschiedenen nationalen Ausprägungen des Comics viel größer sind als die oft herausgestellten Unterschiede. (Lediglich an einer Stelle meint man, durch die nationale Brille zu schauen: Dass die amerikanischen Superheldencomics in der Ausstellung als leicht randständiges Subgenre des fantastischen Comics präsentiert werden, darf man durchaus als subtilen Seitenhieb der Grande Nation auf die amerikanische Trivialkultur werten.)
So vorbereitet, macht man sich also auf Entdeckungsreise durch die folgenden Kabinette. Die Themen, denen diese gewidmet sind, sind nicht immer ganz schlüssig: teilweise geht es um im Comic umgesetzte Emotionen („Furcht“, „Gelächter“), teils um Genres, teils auch um gestalterische Fragen („Geometrie“, „Farbe und Schwarzweiß“). Darüber kann man angesichts der Qualität der Exponate und der Präsentation aber leicht hinwegsehen.
Eine Etage tiefer wird ein anderes Konzept verfolgt: hier treten die Werke einzelner Comicschaffender in den Dialog mit Exponaten aus der Dauerausstellung des Centre Pompidou. Teilweise sind das sehr naheliegende Paarungen – etwa wenn Seiten des Geometriefanatikers Chris Ware neben einem Gemälde von Theo van Doesburg hängen oder im Fall von Zeichnerinnen und Zeichnern, die sich ganz konkret auf Werke der Kunstgeschichte beziehen. Aber auch überraschende Erkenntnisse ergeben sich, wenn man zum Beispiel sieht, wie Bilder der diesjährigen Max-und-Moritz-Preisträgerin Anna Sommer in Pose, Sujet und Farbigkeit mit einem Gemälde von Francis Picabia korrespondieren.
Aus welchem Fundus die Ausstellungsmacherinnen und -macher schöpfen konnten, zeigt sich auf dieser Etage auch an unerwarteter Stelle: Irgendwie müssen ja auch die Korridore zwischen den einzelnen Ausstellungsräumen bespielt werden. Also hängt man dort eben alles, was man auch noch hat, was aber sonst inhaltlich nirgends so richtig dazupasst. Und so begegnen einem auf dem Weg zum Lift oder zu den Toiletten weitere Hergés, etliche Seiten von George McManus und Winsor McCay, aber auch unbekanntere Entdeckungen wie die Comics von Edmond Calvo, der noch zu Kriegszeiten „La Bête est morte“ publizierte; eine Geschichte, die mit anthropomorphen Tierfiguren die Gräuel des Zweiten Weltkriegs nacherzählte und so als Vorläufer von Art Spiegelmans „Maus“ gesehen werden kann.
Im vierten Stock hat die Ausstellung „Corto Maltese – une vie romanesque“ ihren Platz gefunden. Mit Zeichnungen, Aquarellen, Erstausgaben und großformatigen Reproduktionen taucht man hier tief ein in das erzählerische Universum des melancholischen Kapitäns, das durch die vielen Bezüge zu realen historischen Ereignissen auf den ersten Blick so fest in unserer Realität verankert scheint, tatsächlich aber seiner ganz eigenen traumhaften Logik folgt. Sehr nahe kommt man aber auch Cortos Schöpfer, Hugo Pratt – durch eine ausführliche Darstellung seines Lebens und seiner Reisen, eine kleine Auswahl von Romanen, wissenschaftlichen Werken und Bildbänden aus seiner 30.000 Bücher umfassenden Privatbibliothek, und auch durch kurze Filmausschnitte, in denen er selbst zu Wort kommt. So überlagern sich in der Wahrnehmung Autor und Figur, Kunst und Realität auf ganz faszinierende Weise – und man fragt sich, ob mit dem romanhaften (oder romantischen?) Leben das von Corto Maltese gemeint ist oder das seines Schöpfers. Dass Corto Maltese seit einigen Jahren durch Juan Díaz und Rubén Pellejero fortgeführt wird und zuletzt auch eine Neuinterpretation durch Martin Quenehen und Bastien Vivès erfuhr, wird in der Ausstellung folgerichtig diskret verschwiegen.
Für den Comicfan erhellend ist es jedenfalls auch, hier zu sehen, wie die Publikationsform Einfluss nahm auf die künstlerische Umsetzung: Je nachdem, ob der Comic zur Veröffentlichung als Album, in einer Zeitschrift oder als Zeitungsstrip gedacht war, variieren die Originale im Format und in der Zahl der Panels pro Seite. Durchaus vorstellbar, dass die räumliche Begrenzung, die sich dadurch zeitweise ergab, Pratt dazu anregte, mit verschiedenen Abstraktionsgraden zu experimentieren. Die daraus resultierenden Seiten, in denen sich etwa ein Geröllhagel blattfüllend in rein grafische Strukturen auflöst, gehören mit zu den beeindruckendsten.
Zurück im Hochparterre stößt man dann auf eine Ausstellung, die sich vor allem an Kinder richtet: Hier hat die Illustratorin und Angoulème-Preisträgerin Marion Fayolle Elemente ihres Buchs „La Maison nue“ in die Realität geholt. Die Geschichte handelt davon, wie ein Autor mit Schreibblockade das Angebot bekommt, in die Köpfe anderer Menschen zu kriechen, um sich dort umzuschauen und Inspirationen zu holen. Und genau das können die Kinder hier tun: Fayolle hat die Köpfe ihrer Hauptfiguren in kleine Zelte verwandelt, in die sich die Kinder zurückziehen und in bedruckte Schlafsäcke einwickeln können. Ein wunderbares Bild dafür, was wir alle tun, wenn wir Comics lesen oder in der Ausstellung vor einer Originalzeichnung stehen und so Zugang zur Gedankenwelt ihrer Schöpfer gewährt bekommen.
Leider bereits beendet ist eine fünfte Ausstellung, die im Untergeschoss des Centre Pompidou stattfand. Dort zeigte das seit zehn Jahren aktive Kollektiv Lagon die Produkte seiner Zusammenarbeit und demonstrierte, dass der Comic nicht nur eine prächtige Vergangenheit hat, sondern auch eine höchst lebendige Gegenwart und jede Menge Anknüpfungspunkte für zukünftige Entwicklungen bietet. Aber das wissen Leserinnen und Leser dieses Blogs ja sowieso!
Zu den Ausstellungen „Corto Maltese – Une vie romanesque“, „La bande dessinée au Musée“ und „Bande dessinée, 1964 – 2024“ gibt es umfangreiche, lesenswerte Kataloge; von letzterem auch eine englische Fassung („Comics 1964 – 2024“).
Um den anstrengenden Ausstellungsbesuch durchzustehen, wird empfohlen, in der Mittagspause die im Museumscafé angebotene Tarte au Chocolat zu sich zu nehmen. Sie schmeckt sehr gut und versorgt den Besucher mit dringend benötigten 12.000 Kilokalorien (Schätzwert).
Aufmacherbild © Centre Pompidou
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