Der Code in Not
Jupiter's Legacy auf Netflix
Nach dem Kauf von Millarworld im Jahre 2017 bringt Netflix nun Mark Millars Comicheld*innen aus der Jupiter’s Legacy-Reihe auf die Bildschirme. Nachdem die Serie um Sheldon „The Utopian“ Sampson mehrfach verschoben wurde, kam ihr Start im Mai etwas überraschend. Der ALLESFRESSER hat sich die erste Staffel mit großem Appetit einverleibt und verdaut sie nun irgendwo zwischen Genuss und ziemlichem Magendrücken.
Die USA, 1929. Die Brüder Sheldon und Walt Sampson verlieren beim großen Börsencrash nicht nur haufenweise Geld durch den Niedergang des familieneigenen Stahlunternehmens, sondern auch ihren Vater, der aufgrund dieses Niedergangs Selbstmord begeht. Kurz danach plagen Sheldon Visionen, in denen sowohl sein Vater als auch ein mystischer Ort auftauchen. Gemeinsam mit Walt und vier weiteren Personen begibt er sich auf eine Reise ins Ungewisse.
Die USA, ungefähr heute. Sheldon (Josh Duhamel) ist nun „The Utopian“ und der Anführer des Superheldenteams „Union of Justice“. Vieles ist passiert, seit er und seine Mitreisenden Superkräfte erhalten haben. Während Sheldon verbissen an dem „Code“, dem ethischen Herzstück der Union, festhält, haben viele Teammitglieder und auch die Öffentlichkeit ihre Zweifel. Ist es wirklich noch angebracht, den Gegner nicht zu töten, wenn dieser Gegner sehr wohl zum Äußersten greift, und das immer öfter und brutaler? Geziemt es sich für Superhelden wirklich noch, sich aus politischen Dingen herauszuhalten und nicht die Führung zu übernehmen, obwohl die Bösen nun auch in Politik und Wirtschaft sitzen? Kurz: repräsentiert der Code genau die Werte, die es gegen die Komplexität des 21. Jahrhunderts zu verteidigen gilt – koste es, was es wolle –, oder passt das alte Schwarz-Weiß-Schema nicht mehr in eine Welt voller moralischer Graustufen?
Und genau darum geht es in der brandaktuellen Netflix-Serie „Jupiter’s Legacy“, die auf den gleichnamigen Comics von Mark Millar und Frank Quitely basiert. Oder doch nicht? The Utopian (Superkräfte: Superstärke, Fliegen, Laseraugen, Sturheit) erwähnt den Code zwar in jedem zweiten Satz, und dieser stellt auch den heftigsten Reibungspunkt zwischen The Utopian und seinen mehr oder weniger erwachsenen Superkindern Brandon / Paragon (Superstärke, Fliegen, Selbstzweifel) und Chloe (Superstärke, Fliegen, Drogenparties feiern, keinen Superheldennamen brauchen) sowie dem Rest der Union dar (u.a. Sheldons Frau Grace / Lady Liberty: Superstärke, Fliegen, Bindeglied zwischen Papa und Kindern sein). Damit ist der Code auch deutlich präsenter als in der Comic-Vorlage. Viel mehr wird aus dem großen ethischen Dilemma aber leider nicht herausgeholt, denn man bekommt davon so gut wie nichts zu sehen außer identitätspolitischen Diskussionen, die nicht allzu weit führen. Wenn doch die Welt so komplex geworden ist, dass der Code in Frage steht – dann zeigt uns diese Welt doch bitte auch! An dieser Stelle verschenkt „Jupiter’s Legacy“ enorm viel Potential. Von den verpassten Möglichkeiten, das 21. Jahrhundert mit den scheinbar so geradlinigen 1930ern in Beziehung zu setzen – Zweifel sind ironischerweise in Sheldons eigenem Vater deutlich angelegt – mal ganz zu schweigen… Die Origin Story selbst ist vergleichsweise gut erzählt, jedenfalls bis zur Initiation auf der mystischen Insel. Warum jetzt genau diese sechs Menschen auserwählt und würdig sind, was an der Reise jetzt genau so wahnsinnig entbehrungsreich war, und wer genau diese Superkräfte gesponsert hat, führt „Jupiter’s Legacy“ dem Publikum nur bedingt vor Augen.
So bleibt nach der acht Folgen kurzen ersten Staffel ein ähnlich dumpfes Gefühl, als hätte Walt/Brainwave (Superstärke, Fliegen, in den Gedanken anderer herumfuhrwerken) einem zu energisch das Hirn zusammengedrückt. Da sind einerseits nette Effekte, funktionierende Figuren, ein paar brachial-gute Actionmomente, eine starke Grundprämisse – und andererseits sind da Oberflächlichkeit, eine sich zu oft dahinschleppende Erzählung, und sich um sich selbst drehende Dialoge und Figuren. Immerhin: nach dieser ersten Staffel und einem recht gelungenen Twist am Ende wäre der Boden bereitet für ein tieferes Eintauchen in die Welt. Um durchgehend Spaß zu machen muss „Jupiter’s Legacy“ aber noch eine Schippe drauflegen (oder das Publikum mindestens ein Laserauge zudrücken).