Grader’s Nightmare
Die Frau im Nebel
Exit Games liegen voll im Trend: die halbe Welt hat offensichtlich ihren Spaß daran, sich schnippelnd, faltend und grübelnd durch mehr oder weniger sinnreiche Rätselgeschichten zu arbeiten. Kein Wunder also, dass es mit DIE FRAU IM NEBEL inzwischen auch ein Exit Game in Comicform gibt. Wie bei den meisten konventionellen Vertretern des Genres muss man aber leider auch hier das Spielmaterial in einen Haufen geschredderten Altpapiers verwandeln, um alle Antworten zu finden. Welche Schmerzen muss das in einem Comicsammler auslösen, der normalerweise schon bei leichten Abnutzungsspuren an seinen Büchern in Panik verfällt? Der ALLESFRESSER wagt die Probe aufs Exempel!
Irgendwo da draußen mag es Comicleser geben, denen es nur auf den Inhalt ankommt. Die sich durch Eselsohren oder eingerissene Seiten nicht in ihrem Lesegenuss stören lassen und ein Heft nach Gebrauch vielleicht weiterverschenken oder sogar – kaum zu glauben, aber wahr – dem Altpapier überantworten. Aber ehrlich gesagt dürfte es sich dabei um eine verschwindend kleine Minderheit handeln. Die meisten Comicleser sind eben auch Comicsammler, die alles archivieren, was ihnen in die Finger kommt – und das, wenn irgend möglich, im optimalen, druckfrischen Zustand. Nicht wenige lassen die wertvollsten ihrer Schätze von kundigen Experten für teures Geld „graden“, also nach klaren Kriterien auf ihren Erhaltungszustand hin bewerten, um sie dann in transparente Hartplastiksärge einzuschweißen und so für alle Zeiten zu bewahren.
Solchen Objektfetischisten einen Comic wie DIE FRAU IM NEBEL vorzusetzen, dessen Daseinszweck darin besteht, während des Lesens gefaltet, zerschnitten und bemalt zu werden, dürfte zu fassungslosem Kopfschütteln führen. Aber was passiert, wenn ein Comicsammler zugleich auch begeisterter Exit Gamer ist? Das Ausmaß an innerer Zerrissenheit, das in diesem Fall zu erwarten wäre, kann man sich kaum vorstellen. Es lässt sich wohl nur empirisch bestimmen.
Glücklicherweise gibt es im Umfeld des ALLESFRESSERs einen geeigneten Testkandidaten – nennen wir ihn Peter –, der das passende Persönlichkeitsprofil aufweist und dankenswerterweise bereit war, sich der Herausforderung zu stellen. Und so können wir hier das Protokoll einer faszinierenden Studie am lebenden Objekt präsentieren.
16:45 Uhr
Beginn des Experiments
Zustand des Comics: 9,8 (NM/M: Near Mint / Mint)
Zustand des Probanden: aufgeräumt
Alles ist vorbereitet für das spektakuläre Experiment: Neben dem frisch ausgepackten Buch liegen Schere, Cutter und Falzbein bereit; außerdem Schneidelineal, Klebstoffe und – für eventuelle emotionale Ausnahmezustände – ein verschreibungspflichtiges Beruhigungsmittel und mehrere Flaschen Bier.
Peter unterzieht das Buch seinen prüfenden Blicken und macht einen zufriedenen Eindruck. Das Cover ist unbeschädigt und ohne abgeriebene Stellen, der Buchrücken makellos. Die einzelnen Seiten sind blütenweiß, der Druck sitzt präzise. Eigentlich sollte man das Buch nun sofort einschweißen, um es den beim Lesen zwangsläufig entstehenden Verheerungen zu entziehen. Leider sieht unser Plan etwas Anderes vor.
16:51 Uhr
Zustand des Comics: 9,4 (NM / Near Mint)
Zustand des Probanden: angespannt
Sollte Peter die leise Hoffnung gehegt haben, dass das Buch ihm erst einmal eine Schonfrist einräumt, ist diese schnell verflogen. Gleich die erste Handlungsanweisung zwingt ihn dazu, den hinteren Klappeneinband zu zerschneiden: die dort abgedruckten Zahlenstreifen werden für ein Dechiffrierwerkzeug benötigt. Als er die Schere ansetzt, hat er den Blick eines Mannes mit Höhenangst, dem jemand bei Jochen Schweizer einen Gutschein für einen Fallschirmsprung geschenkt hat.
16:55 Uhr
Zustand des Comics: 8,0 (VF: Very Fine)
Zustand des Probanden: alarmiert
Glücklicherweise geht es nicht in diesem Takt weiter. Erst einmal darf Peter sich mit der Geschichte befassen und Eli, Tina und Yannik in die rätselhafte Villa am Rande des Sees begleiten. Die spannende, in stimmungsvollen Zeichnungen präsentierte Handlung schafft es, ihn erst einmal zu beschäftigen und von den weniger angenehmen Seiten des Experiments abzulenken.
17:45 Uhr
Zustand des Comics: 6,0 (FN: Fine)
Zustand des Probanden: angegriffen
Eine Stunde später ist der Proband tief in die Handlung vorgedrungen und hat dabei seine Spuren in dem Buch hinterlassen. Etliche Rätsel machen es erforderlich, Seiten zu knicken, Bilder auszuschneiden und an anderer Stelle wieder einzusetzen. Nicht einmal das Verlagslogo auf dem Vorsatzblatt bleibt verschont. Eine dünne Schweißschicht überzieht Peters Gesicht, und das anfangs nur sporadisch auftretende Stirnrunzeln hat sich inzwischen verfestigt. Noch arbeitet er sich aber beharrlich durch alle gestellten Aufgaben.
18:36 Uhr
Zustand des Comics: 3,5 (VG-: Very Good -)
Zustand des Probanden: apathisch
Die Herausforderungen steigen. Inzwischen müssen schon ganze Seiten zerschnitten werden, um herauszufinden, was es mit der ominösen Villa auf sich hat. Wäre Peter nicht so gefesselt von den Cliffhangern, die regelmäßig in die Handlung eingestreut sind, hätte er vermutlich längst aufgegeben. Aber auch so macht er inzwischen einen etwas ermatteten Zustand. Die Laborleitung entschließt sich, das Experiment im Interesse des Probanden zu unterbrechen.
19:51 Uhr
Zustand des Comics: 2,0 (G: Good)
Zustand des Probanden: angeregt
Eine anständige Portion Gnocchi in Gorgonzolasoße und ein kühles Augustiner versetzen den Probanden wieder in eine Verfassung, die die Fortsetzung des Experiments möglich macht. Leider werden die Rätsel zunehmend kniffliger, während Peter erkennbar ermüdet. Diese gegenläufige Bewegung hemmt den Fortschritt etwas und führt dazu, dass der Proband nun doch hin und wieder auf die anfangs verpönten Hilfestellungen zurückgreift, die im Buch enthalten sind. Aber nur ganz selten. Ehrlich!
22:11 Uhr
Zustand des Comics: 0,5 (CR: Completely Ruined)
Zustand des Probanden: abgeschlafft
Es ist vollbracht! Nach fünfeinhalb Stunden sind alle Rätsel gelöst, Yannik, Tina und Eli sicher aus der grusligen Villa geleitet, und wo am frühen Abend ein druckfrisches Buch auf dem Tisch lag, sieht es jetzt aus wie in einer Konfettifabrik. Peter wirkt geschafft, aber zufrieden, und sofern nicht noch unerwartete Langzeitschäden auftreten, darf das Experiment als gelungen betrachtet werden!
Fazit:
DIE FRAU IM NEBEL schafft erstaunlich gut den Spagat zwischen Comic und Exit Game. Während bei anderen Spielen dieser Art die Handlung meistens eher Alibicharakter hat, macht es hier durchaus Spaß, die drei Jugendlichen durch das Haus zu begleiten und nach und nach dessen Geheimnisse zu erschließen. Neben dem Skript von Jens Baumeister sorgen dafür vor allem die atmosphärisch dichten, gedeckt colorierten Zeichnungen von Hanna Wenzel, die dem Leser die eingestaubten Räumlichkeiten der Villa ganz nahe bringen und Lust machen, das Buch (oder was davon übrig ist) auch später noch einmal durchzublättern. Dass der Comic durch die Buchgestaltung, die Figurenkonstellation und das Motiv der unheimlichen Villa mehr als ein paar ???-Vibes verströmt, dürfte übrigens kein Zufall sein. Irgendwie muss der Kosmos-Verlag ja die Zielgruppen seiner beiden Erfolgsprodukte zur Überschneidung bringen!
Und dass das Buch nach dem Spielen vollkommen verwüstet ist, ist für den Comicsammler zwar schwer zu ertragen. Aber immerhin kann man hinterher alle Schnipsel in die Grading-Box packen; dann geht zumindest nichts verloren.
Die Frau im Nebel
Inka und Markus Brand, Hanna Wenzel, Jens Baumeister / Franckh-Kosmos Verlag
Taschenbuch, 126 Seiten, €16,00
Abbildungen unter Verwendung von Materialien © Franckh-Kosmos
Ein Rezensionsexemplar wurde dem ALLESFRESSER vom Verlag kostenlos zur Verfügung gestellt. Wir hätten es gerne nach Gebrauch zurückgegeben, sind aber leider daran gescheitert, es wieder fachgerecht zusammenzubauen.