Gürteltier im Kriegsgebiet
Kobane Calling
Es gibt lustige Comics, spannende Comics, unterhaltsame Comics. Hin und wieder gibt es sogar einen Comic, der uns die Welt, in der wir leben, verständlicher macht. „Kobane Calling“ ist das alles. Und noch ein bisschen mehr.
Unter dem Künstlernamen Zerocalcare präsentiert Michele Rech auf seinem Comicblog schon seit mehreren Jahren sarkastisch pointierte Alltagsepisoden aus seinem Leben. In Italien hat er sich auf diese Weise einen beachtlichen Bekanntheitsgrad erarbeitet, der sich auch in den Verkaufszahlen seiner Bücher niederschlägt. Rech ist aber nicht nur ein fest in der Nerdkultur verankerter Comiczeichner, sondern auch ein politisch denkender Mensch, sozialisiert in den links-alternativen Gemeinschaftszentren seiner Heimatstadt Rom. Als solcher erfuhr er im Austausch mit jungen Kurden davon, wie im Norden von Syrien als Ersatz für die unter dem Ansturm des IS zerbröckelnden staatlichen Strukturen etwas ganz Anderes entstand: Rojava, ein von den Kurden selbst verwaltetes Gebiet, organisiert – ganz bewusst im Gegensatz zu den in der Region vorherrschenden autoritären Regimes – auf der Grundlage von demokratischer Teilhabe, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und einer vollständigen Gleichstellung von Mann und Frau. Fasziniert davon, wie Menschen, die sich tagtäglich gegen die barbarische Gewalt des IS verteidigen müssen, die Kraft aufbringen, gleichzeitig eine lange erträumte gesellschaftliche Utopie zu realisieren, beschloss Zerocalcare, sich selbst ein Bild von diesem sozialen Experiment zu verschaffen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter reiste er 2014 ins türkisch-syrische Grenzgebiet und 2015 über den Nordirak bis nach Kobane. Von diesen Reisen berichtet er in seinem inzwischen auch auf deutsch erschienenen Buch „Kobane Calling“.
Dass er das in seinem gewohnt flapsigen Zeichenstil tut, über Zwiegespräche mit seinem imaginären Freund, einem Gürteltier, Humor ins Spiel bringt und immer wieder popkulturelle Referenzen einbaut – wenn etwa der für den Grenzübergang zwischen Syrien und dem Irak zuständige Beamte als Finsterling aus einer Anime-Serie dargestellt wird oder türkische Soldaten als Stormtrooper aus Star Wars – mag man angesichts der ernsten Thematik kritisch sehen. Letzten Endes machen es aber genau diese Stilmittel für den mit einem ähnlichen Hintergrund ausgestatteten Leser sehr einfach, die dargestellten Erlebnisse mit der eigenen Lebenswirklichkeit in Bezug zu setzen.
„Kobane Calling“ ist kein klassischer Comicjournalismus, keine Reportage, die bestrebt ist, ein möglichst ausgewogenes Bild der Gegebenheiten vor Ort zu vermitteln – genauso wenig wie Zerocalcare selbst ein neutraler Beobachter ist, sondern ein mitfühlender Mensch, der sich die berechtigten Anliegen und politischen Ziele der kurdischen Bevölkerung zu eigen gemacht hat. Dass er das aber an keiner Stelle verschleiert, seine Haltung vielmehr kontinuierlich hinterfragt und dem Leser jederzeit zugesteht, aus seinen Beobachtungen andere Schlüsse zu ziehen, bewahrt das Buch davor, ein eindimensionales Propagandawerk zu werden. Und gerade durch den subjektiven, empathischen Ansatz gelingt „Kobane Calling“, woran jede Nachrichtensendung scheitern muss: Es schafft ein tiefes Verständnis für die Situation der Menschen, die ganz direkt und hautnah von dem betroffen sind, was bei uns nur als geopolitische Meldung auf den Bildschirmen landet. Viel mehr kann man von einem Comic nicht verlangen.
Kobane Calling
Zerocalcare / Avant-Verlag
Aus dem Italienischen von Carola Köhler
HC, 272 Seiten, € 24,95
Abbildungen: © Michele Rech / Avant-Verlag