Schmale Regale (2)
Hanna Wenzel präsentiert EIN SOMMER AM SEE
In unserer Reihe SCHMALE REGALE stellen sich Comicmenschen aller Art einer grauenhaften Gewissensfrage: wenn man in der eigenen Wohnung nur Platz für einen einzigen Comic hätte – für welchen würde man sich entscheiden? Bei der Illustratorin und Comiczeichnerin Hanna Wenzel fällt die Wahl auf eine der schönsten Coming of Age-Geschichten, die es in Comicform zu lesen gibt – und die auch noch ganz wunderbar in die Jahreszeit passt.
Meistens fällt es mir schwer, einen Favoriten bei etwas zu benennen. Ein Lieblingslied, ein Lieblingsbuch, einen Lieblingsfilm: das Meiste hängt von meiner Laune ab und ändert sich ständig. Mein Lieblingscomic jedoch ist auch nach all den Jahren der selbe geblieben und ich nenne immer nur den einen, wenn ich danach gefragt werde. Ich bin über die Jahre mit ihm gewachsen, als Person und auch als Zeichnerin. Er hat mich durch verschiedene Lebensphasen begleitet – nicht überraschend also, dass es ausgerechnet auch eine Geschichte über das Wachsen bzw. das Erwachsenwerden ist: EIN SOMMER AM SEE.
Die Graphic Novel von Jillian und Mariko Tamaki nimmt uns mit in einen Sommer von Rose und ihrer etwas jüngeren Freundin Windy. Jedes Jahr verbringen ihre Familien den Urlaub im Ferienort Awago Beach. Nur dort treffen sie sich und nur dort existiert ihre Freundschaft. Durch die vielen Jahre, die sie sich kennen ist diese eine innige, fast schon geschwisterliche.
In diesem Sommer ist jedoch vieles anders. Für Rose markiert er das Ende ihrer Kindheit und leitet zeitgleich den Beginn des Erwachsenwerdens ein. Nicht nur ihre sich ändernden Interessen und ihr neugieriger Blick auf die Welt der Teenager sondern auch die angespannte Beziehung ihrer Eltern entfernen sie von der noch kindlichen Windy, die sich nichts sehnlicher als die Rückkehr zur alljährlichen Ferienidylle wünscht.
Ab der ersten Seite nimmt uns EIN SOMMER AM SEE mit in Roses Urlaub. Sie ist die Erzählerin der Geschichte und führt uns mit melancholischen inneren Monologen voller Nostalgie in ihre Welt ein. Es gibt nicht viel Text, die Erzählung wird durch stimmungsvolle Totalen und intime Nahaufnahmen der Figuren getragen. Die Dialoge sind kurz und so alltäglich und situationsgebunden, dass sie nur wenig die Handlung vorantreiben und stattdessen vor allem Aufschluss über die einzelnen Personen und deren Charakter geben. Sachlich, fast schon belanglos wirken die Gesprächsfetzen. Gerade die sind es aber, die jeder Szene eine ganz eigene Art von Vertrautheit und Authentizität verleihen.
Wir sind dabei, wenn Rose in ihrem Zimmer ankommt und sich aufs Bett fallen lässt, sich das Fahrrad schnappt und zu ihrer Freundin Windy fährt. Der Fahrtwind streicht ihr durchs Haar und mit einem Zweig bringt sie die Sträucher zum Rascheln, die Gangschaltung des Fahrrads klackert. Die Atmosphäre dieses Ankommens in den Ferien macht die Unbeschwertheit greifbar.
Jillian und Mariko Tamaki erzählen indirekt durch die Augen der Protagonistin Rose und die wiederum beschreibt durch die Augen der anderen. Jede Eigenschaft ist eine subjektive und sinnliche, eine erlebte. Awago Beach ist kein faktischer Ort sondern die Summe der Erlebnisse aller Figuren.
Über innere Monologe träumt sich Rose in eine idyllische Vergangenheit. An manchen Stellen scheint es fast so, als würde sie ihr jüngeres Ich in ihren Erinnerungen belächeln, manchmal beneiden. Als hätte sie die Realität eingeholt und die albernen Träumereien der Kindheit geerdet. Es gibt Szenen in denen Rose versucht einen Teil der schönen Erinnerungen, in denen sie so gerne schwelgt, zurückzuholen aber in der Gegenwart abgewiesen wird. Der Bruch zwischen „früher“ und „jetzt“ ist deutlich und bricht einem beim Lesen das Herz. Das Erwachsenwerden hat begonnen.
Obwohl das Erscheinungsjahr 2014 schon etwas weiter zurückliegt, hat die Geschichte von Mariko Tamaki nicht an Aktualität verloren. Zentral für das Werk ist nicht die Handlung an sich, sondern die Vielschichtigkeit der Gefühlswelt durch die sich Rose bewegt. Das Erwachsenwerden bleibt in allen Generationen ein schmerzhafter Prozess, ein Abschied von einer unbeschwerten Kindheit und Hinkehr zu einer neuen Ersthaftigkeit. Die meisten Situationen, in denen sich Rose bewegt sind alltäglich, aber sie ist mit einer Fülle an kleinen Veränderungen konfrontiert, die ihr zu schaffen machen. Mariko Tamaki nimmt diese Nuancen zum Anlass beim Lesen ein facettenreiches Gefühlsportfolio abzurufen. Wir fühlen mit Rose und begleiten sie, während sie ihre ersten Schritte in die Welt der Erwachsenen macht.
Jillian Tamakis Zeichnungen strahlen Natürlichkeit aus. In den einfarbigen Bildern findet sich an jeder Stelle eine Mischung aus malerischen und zeichnerischen Elementen. Die abstrakten Texturen von groben Pinselstrichen und Aquarellverläufen verleihen den Hintergründen eine träumerische Abstraktion. Dem gegenüber stehen die gezeichneten Figuren.
Nur durch wenige Striche werden Charakter und Erscheinungsbild einer jeden Figur einzigartig umrissen. Ihre Posen und Bewegungen sind nuanciert eingefangen und lassen sie trotz des fast schon minimalistischen Stils natürlich und realistisch wirken. Die Zeichnungen sind im Einklang mit der Geschichte und in ihrer Zärtlichkeit die Essenz eben dieser.
So wie wir in EIN SOMMER AM SEE Rose ins Erwachsenwerden begleiten, hat mich die Graphic Novel durch mein „Erwachsenwerden“ als Comiczeichnerin und Illustratorin begleitet. Der Stellenwert, den Jillian und Mariko Tamaki dem Alltäglichen geben, hat meinen Blick auf die Konzeption einer authentischen Comic-Welt verändert. Es sind nicht die großen Gesten, die eine Figur für uns nahbar machen sondern die feinen Details, in denen wir uns selbst wiedererkennen.
Als Illustratorin und Comiczeichnerin bedeutet mir der Titel auch auf einer rein visuellen Ebene sehr viel. Die Atmosphäre wird durch die Bildsprache getragen. Pro Seite gibt es nur wenige Bilder. Das führt dazu, dass der Lesefluss nicht durch das Paneling einer Doppelseite allein sondern auch durch das Blättern von Seite zu Seite einen eigenen Rhythmus bekommt.
Kleinste Änderungen in der Komposition (z.B. Ausschnitt oder Lichtsituation) führen zu ganz neuen Bildaussagen und das im Gesamtbild zum filmischen Charakter der Graphic Novel. Selbst die Stille der textlosen Panels ist ausdrucksstark.
Die Panels arbeiten viel mit Weißräumen, lassen Raum zum Atmen. Und genau so fühlt es sich auch beim Lesen an. Man hält die Luft an, wenn die Hauptperson vom Wasser verschluckt wird, man atmet durch, wenn sie in eine weitere Erinnerung voller Leichtigkeit abtaucht. Die poetischen Episoden sind inspirierend und ich schätze die ruhige bildlastige Erzählweise. Für mich ist „Ein Sommer am See“ eine Abkehr von der klassischen handlungsgetriebenen Erzählweise hin zu einer Erzählung, die durch die Figuren und die Amtosphäre getragen wird. In Awago Beach passiert nichts, in Rose dafür umso mehr.
Alle Abbildungen © Reprodukt
Hanna Wenzel lebt als freischaffende Illustratorin in der Nähe von Stuttgart. In ihrer Graphic Novel ROCKY BEACH hat sie eine Frage beantwortet, die alle ???-Freunde schon seit Jahrzehnten umtreibt – nämlich was eigentlich aus Justus, Bob und Peter geworden ist, nachdem sie aus dem Alter der jugendlichen Detektive herausgewachsen waren. Hier auf dem ALLESFRESSER konnte man Hanna schon begegnen, als wir uns auf experimentelle Weise, aber mit großer Begeisterung mit ihrem EXIT-Comic DIE FRAU IM NEBEL beschäftigt haben.
In der ersten Folge der SCHMALEN REGALE hatte Levin Kurio seinen Lieblingscomic KAMANDI vorgestellt. Seinen Lobgesang auf diesen Kirby-Klassiker kann man hier nachlesen.