Vom Spruchband zur Sprechblase
Comic-Workshop in Tübingen
Was haben mittelalterliche Kirchenfenster oder Holzschnitte mit dem Comic, wie wir ihn heute kennen, zu tun? Inwiefern lassen sich mittelalterliche Darstellungen wie Comics lesen, und wie nehmen Comics heute das Mittelalter in den Blick? Diesen und ähnlichen Fragen ging am 26. und 27. April 2019 an der Universität Tübingen der Workshop „Vom Spruchband zur Sprechblase. Comics des Mittelalters – Mittelaltercomics“ auf den Grund. Der ALLESFRESSER war vor Ort und versucht sich an einem Überblick.
Der US-Amerikaner an sich hat ja vieles erfunden: Kaugummi, koffeinhaltige Erfrischungsgetränke – und, natürlich, den Comic. Zumindest sagen das die US-Amerikaner, und natürlich haben sie gute Argumente auf ihrer Seite, wenn man sich den Comic als kulturelles Phänomen seit dem frühen 20. Jahrhundert ansieht, wer die großen Namen und Verlage sind und so weiter. Andererseits ist diese Sichtweise ständigen Blickerweiterungen ausgesetzt; Scott McCloud etwa sucht die Spuren des modernen Comics in ägyptischen Hieroglyphen, im Teppich von Bayeux und anderen Werken, die weit in die Vergangenheit reichen. In solchen und ähnlichen Bemühungen, eine Kontinuität visuellen Erzählens im Sinne einer Bildgeschichte (mehr dazu später) herzustellen, ordnete sich auch der Workshop „Vom Spruchband zur Sprechblase. Comics des Mittelalters – Mittelaltercomics“ ein, zu dem sich Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Disziplinen (Kunstgeschichte, Neu-Germanistik und germanistische Mediävistik, Anglistik, Romanistik, Niederlandistik, Fachdidaktik, Medienwissenschaft…) und Ländern (Deutschland, Österreich, Niederlande) versammelten. Wieso Mittelalter und Comics? Es handelt sich hierbei um Thema, das bislang in der Forschung nur punktuell aufgegriffen wird, an sich aber vor allem für die Mediävistik (also die ‚Mittelalterforschung‘) von großer Bedeutung ist – nicht nur, weil sich die Literatur- und Kulturwissenschaften allgemein gegenüber Comics geöffnet haben, sondern weil viele Themenfelder der Comicforschung (Intertextualität, Intermedialität, Narratologie, Rezeption) auch wichtige Arbeitsbereiche der Mediävistik sind.
Vor diesem Hintergrund bemühte sich der Workshop um zwei auf die beiden Workshoptage verteilten Blickwinkel: Comics des Mittelalters und Mittelaltercomics. Blickwinkel eins untersuchte, inwiefern mittelalterliche Artefakte und Darstellungen als Comics zu verstehen sind und mit welchen Mitteln der Comicforschung man sie betrachten kann. Dabei rückten vor allem die verbindenden Funktionen einzelner Darstellungen in den Fokus: illustrierte Handschriften, die schon das vielfach in den Vordergrund gerückte Zusammenspiel von Wort und Bild vor Augen führen; mittelalterliche Bildtexte und Spruchbänder, die im Grunde wie die Sprechblasen des modernen Comics funktionieren; Kirchenfenster als Riesenpanels, die mit Vorder- und Hintergrund und der Bildfolge spielen; sich wiederholende Holzschnitte, die eine Funktion jenseits bloßer Illustration verfolgen; oder der Bilderbogen des 19. Jahrhunderts als Paradebeispiel für die Blicklenkung und Lesefolge, wie sie auch in Comics praktiziert wird. Sind das alles nur (defizitäre) Vorläufer des modernen Comics? Man war sich zumindest im Kontext des Workshops sehr einig, dass es produktiver ist, die ganze Entwicklung eher als eine Kette weitgreifender Kontinuität zu sehen, anstatt die amerikanische Selbstbeweihräucherung, den Comic an sich erfunden zu haben (und die stets impliziert, dass alle Vorläufer in irgendeiner Weise unvollkommen sind und erst mit den ‚funnies‘ der Zeitungen oder dem Aufstieg des Comichefts eine Art Idealtyp entstand), zu füttern. Diese Kontinuität zeigt sich zum einen auf der semiotischen Ebene, also darin, dass Spruchband, Sprechblase, Bilderbogen etc. und ihre Verwendung so viele Gemeinsamkeiten aufweisen und so clevere Strategien verfolgen, dass die Idee der Vervollkommnung im 20. Jahrhundert mehr als in Frage steht. Zum anderen demonstrierten die Beiträge des ersten Workshoptages eine Konintuität von mittelalterlichen Darstellungen zum heutigen Comic auf der technisch-apparativen Ebene. Natürlich sind auf produktionstechnischer Seite in verschiedenen Kontexten verschiedene Materialien und Verbreitungsstrategien im Spiel – aber auch hier lohnt es sich, den Blick über das gedruckte Comicheft oder gar die gebundene Graphic Novel als Kernformat hinaus zu erweitern, denn letztendlich handelt es sich auch hier um eine zu guten Teilen willkürliche Normierung (sei es von der heutigen Comicbranche selbst oder von der Forschung). So spricht zum Beispiel – auch wenn wir immer gerne nach ‚dem Anfang‘ oder ‚dem Idealtyp‘ von etwas suchen, um das, was uns begeistert, greifbar und zugänglich zu machen – herzlich wenig dagegen, auch Kirchenfenstern eine Funktion als Massenmedium zuzuschreiben, und das lange vor dem Siegeszug printbasierter Medienformate.
Auf der anderen Seite lässt sich dieses Kontinuum auch auf kulturell-institutioneller Ebene beobachten, was der zweite Tag des Workshops zeigte. Unter der Überschrift ‚Mittelaltercomics‘ ging es dort um die gegenläufige Bewegung, in der moderne Comics mittelalterliche Themen, Stoffe und Gestaltungstechniken aufgreifen. Kurz gesagt stand hier also die Mittelalterrezeption im Vordergrund. Dabei schälten sich ein paar Leitfragen heraus: was adaptiert/rezipiert man überhaupt, wenn man heute ‚Mittelaltercomics‘ entwirft und liest – einen konkreten mittelalterlichen Text (im deutschen Kontext vorrangig das Nibelungenlied), eine Figur (z.B. im englischsprachigen Raum: König Artus; im französischen: Jeanne d’Arc; im deutschen: Siegfried oder die Zauberergestalt Klingsor) oder Archetypen, ein Motiv (beispielsweise die Suche nach dem Heiligen Gral), oder typische Handlungsmuster? Und, in Zuge dessen: wie wird adaptiert? Vor allem an dieser Stelle zeigte sich, dass Comic- und Mittelalterforschung noch viel spannende Arbeit vor sich haben. Neben Fragen des Einsatzes von Comics im Fremdsprachenunterricht, der Inszenierung mittelalterlicher Stoffe zwischen ästhetischem Anspruch und nationaldidaktischen Tendenzen, der Handhabung des ‚Originaltexts‘, der auf ganz verschiedene Weisen seinen Weg auf die Comicseiten und in die Panels finden kann, bieten sich – wieder ganz im Sinne der verbindenden Funktionen der beiden Bereiche des Workshops – transkulturelle und transtemporale Perspektiven an, um Ansätze der Comic-Forschung und der Mittelalterforschung füreinander fruchtbar zu machen.
Prägend für diesen grundlegenden Ansatz war – im Sinne von Dietrich Grünewald – das Konzept der Bildgeschichte als übergeordnetes Prinzip, das die Entwicklung neuer und den Rückgriff auf etablierte Formen aufzeigt und so hilft, sich auch begrifflich vom leicht einseitigen Comic-Begriff zu lösen. Stattdessen propagiert die Idee der Bildgeschichte ein transnationales und transhistorisches Verständnis von ‚Comics‘ in einem ganz weiten Sinne. Wiedererkennbare Merkmale von Figuren, Zitate und das Zitieren der Geschichte der Bildgeschichte, enge Bildfolgen, die Vorwissen voraussetzen, Panels als Erzähleinheiten, die wie Bausteine geschichtet sind – solche und ähnliche Kriterien verbinden nicht nur Comics des Mittelalters und Mittelaltercomics, sondern vor allem ein weitgefächertes Spektrum; ein davon abgeleitetes Verständnis des ‚Prinzips Bildgeschichte‘ verträgt sich dabei auch hervorragend mit McClouds klassischer offenen Definition, Comics seien „zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen“ – sogar Amerikaner, so scheint es, sehen es nicht immer ganz so eng.
Abbildung © Nina Hable, Wien, mit freundlicher Genehmigung